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Brigitt Flüeler verleiht den Vergessenen eine Stimme
von Delf Bucher
36 Jahre war Brigitt Flüeler weg von Stans. 2015 kam sie zurück. Nach intensiven Jahren in Zürich mit einem Studium der Geschichte, Volkskunde und Volksliteratur, einer Karriere als Radiojournalistin bei DRS/SRF stand der Ruhestand an. Ruhestand? Nicht bei Brigitt Flüeler.
Kaum hatte sie ihre Koffer in Stans ausgepackt, übernahm sie die Co-Produktionsleitung für das Freilichtspiel «Gott ist ein Anderer» zum 400-Jahr-Jubiläum des Klosters St. Klara. Von dort, von ihrem kleinen Büro im ehemaligen Institutsgebäude aus, organisiert sie bis heute ihre Recherchen für Buchprojekte und Ausstellungen, für szenische Lesungen wie beispielsweise über Jakob Wyrsch. Hier treffen wir uns, um auf zehn intensive Jahre zurückzublicken.
Sensorium für Frauengeschichte
Zufällig liegt das von ihr mitinitiierte Buch «Leonard von Matt – Frühe Fotografien» auf dem Schreibtisch. Das Titelbild mit «Ängelini», lässig die Bris-sago im Mund, in den Dutt ein exotisch anmutendes Schmuckstück, den «Pfyl» gesteckt, lädt zum Gespräch ein. Nun blättert Brigitt Flüeler im Buch, erklärt mit geschultem Blick, wie konsequente Licht- und Linienführung bereits die frühe Fotografie des Autodidakten Leonard von Matt prägte. Bei einem Bild der
Landsgemeinde verweilt sie länger und kommentiert: «Ich musste kämpfen, dass dieses Bild mit den interessierten, aber nicht stimmberechtigten Frauen ausserhalb des Landsgemeinderings ins Buch aufgenommen wurde.» Die gesellschaftliche Brisanz dieser Szenerie erschloss sich dem Verlag und der Grafikerin nicht auf den ersten Blick. Aber Brigitt Flüeler mit ihrem Sensorium für Frauengeschichte setzte sich durch.
Frauen eine Bühne zu geben, zieht sich wie ein roter Faden durch Flüelers Schaffen – sei es beim Radio oder bei der Kultur- und Geschichtsvermittlung. Im biografischen Essay über Leonard von Matt porträtierte sie auch dessen Frau Bobi. Bobi war verheiratet und ausgerechnet in Leonard, einen Spross der einflussreichen und streng katholisch geprägten Buchhandelsdynastie von Matt, verliebt. Flüeler breitet keinen Historienklatsch aus, sondern schildert anhand der von ihr recherchierten Liebesbriefe die Seelennot der beiden, die – entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen – doch noch zusammenfanden.
Der kleine Unterschied beim «M»
Gleichberechtigung stand für die Redaktionsleiterin auch bei DRS 1 im Zentrum. Sie sorgte dafür, dass beim Talk «Persönlich» Frauen und Männer in schöner Parität aufeinandertrafen. Und als im Jahr 1997 der Verein «Frauen in Nidwalden und Engelberg – Geschichte und Geschichten» gegründet wurde, war Brigitt Flüeler von Anfang an dabei. Mit anderen Mitstreiterinnen rettete sie die Volkskundlerin und Schriftstellerin Marie Odermatt-Lussy (M. O.-L.) vor dem Vergessen. Aufgrund dieser Arbeit erhielt Odermatt-Lussy 29 Jahre nach ihrem Tod den Medienpreis SRG Zentralschweiz. «Oft bekam ich zu hören: Hat sie ihn wirklich verdient?» Flüeler ist überzeugt, diese Frage wäre nie aufgekommen, wenn das «M» im Kürzel M. O.-L. nicht für Marie, sondern für Markus gestanden hätte.
Eine andere Nidwaldnerin, der lange der Status der Künstlerin abgesprochen wurde, ist Annemarie von Matt. Im Radiostudio realisierte Flüeler eine Inszenierung zum literarischen und künstlerischen Schaffen von Annemarie von Matt – eine Produktion, die in der Kategorie Feature des renommierten «Prix Europa» nominiert wurde. Was diese spannende Sendung somit eindrücklich zeigt: Brigitt Flüeler ist eine Stimmenfängerin.
Anderen eine Stimme geben
Mit Menschen zu reden, um Geschichte und Geschichten zu erzählen – das bewies Brigitt Flüeler auch bei der Jahresversammlung des Historischen Vereins Nidwaldens (HVN) 2025. Neun Jahre lang präsidierte sie als erste Frau den Traditionsverein. Bei ihrem Abschied stellte sie ihre Recherche zum Thema eingewanderte Italienerinnen und Italiener vor. Im Gespräch mit vier italienischstämmigen Gästen zeigte sie, wie Zeitzeugengespräche Geschichte lebendig machen können. Brigitt Flüeler hat aber vor allem ein krönendes Finale als Präsidentin des HVN gesetzt. Bei der Vernissage des Buches «Gegen das Vergessen» im November 2024 spielte sie im vollbesetzten Pestalozzisaal ihre Stärke als Radiomoderatorin aus. Das von ihr massgeblich angestossene Buchprojekt zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in Nidwalden wurde zu einem würdigen Festakt, bei dem Landammann Res Schmid in Anwesenheit des gesamten Regierungsrats die Bitte um Entschuldigung für das Leid und Unrecht gegenüber allen Betroffenen aussprach.
Dass dieses dunkle Kapitel aufgearbeitet wurde, ist auch Flüelers Hartnäckigkeit zu verdanken. Das berühmte Brecht-Zitat, «die, die im Dunkeln stehen, sieht man nicht», könnte wie ein Credo über dem Schaffen von Brigitt Flüeler stehen. Die verborgenen und vergessenen Menschen hat sie aus dem Dunkeln geholt. Und dies hat auch die Jury erkannt, die ihr den mit 25’000 Franken dotierten Innerschweizer Kulturpreis verleiht.