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Brigitt Flüeler verleiht den Vergessenen eine Stimme

4. September 2025
Seit 2015 ist die Radiojournalistin Brigitt Flüeler wieder in Stans. Die Kulturvermittlerin und Historikerin setzte Akzente im kulturellen Leben Nidwaldens. Für ihr nachhaltiges Engagement erhält sie nun den Innerschweizer Kulturpreis.

von Delf Bucher

36 Jahre war Brigitt Flüeler weg von Stans. 2015 kam sie zurück. Nach in­tensiven Jahren in Zürich mit einem Studium der Geschichte, Volkskunde und Volksliteratur, einer Karriere als Radiojournalistin bei DRS/SRF stand der Ruhestand an. Ruhestand? Nicht bei Brigitt Flüeler.

Kaum hatte sie ihre Koffer in Stans aus­gepackt, übernahm sie die Co-Produkti­onsleitung für das Freilichtspiel «Gott ist ein Anderer» zum 400-Jahr-Jubiläum des Klosters St. Klara. Von dort, von ihrem kleinen Büro im ehemaligen Institutsge­bäude aus, organisiert sie bis heute ihre Recherchen für Buchprojekte und Aus­stellungen, für szenische Lesungen wie beispielsweise über Jakob Wyrsch. Hier treffen wir uns, um auf zehn intensive Jahre zurückzublicken.

Sensorium für Frauengeschichte
Zufällig liegt das von ihr mitinitiierte Buch «Leonard von Matt – Frühe Fo­tografien» auf dem Schreibtisch. Das Titelbild mit «Ängelini», lässig die Bris-sago im Mund, in den Dutt ein exotisch anmutendes Schmuckstück, den «Pfyl» gesteckt, lädt zum Gespräch ein. Nun blättert Brigitt Flüeler im Buch, erklärt mit geschultem Blick, wie konsequente Licht- und Linienführung bereits die frühe Fotografie des Autodidakten Leonard von Matt prägte. Bei einem Bild der

Landsgemeinde verweilt sie länger und kommentiert: «Ich musste kämpfen, dass dieses Bild mit den interessierten, aber nicht stimmberechtigten Frauen ausserhalb des Landsgemeinderings ins Buch aufgenommen wurde.» Die ge­sellschaftliche Brisanz dieser Szenerie erschloss sich dem Verlag und der Gra­fikerin nicht auf den ersten Blick. Aber Brigitt Flüeler mit ihrem Sensorium für Frauengeschichte setzte sich durch.

Frauen eine Bühne zu geben, zieht sich wie ein roter Faden durch Flüelers Schaffen – sei es beim Radio oder bei der Kultur- und Geschichtsvermittlung. Im biografischen Essay über Leonard von Matt porträtierte sie auch dessen Frau Bobi. Bobi war verheiratet und ausgerechnet in Leonard, einen Spross der einflussrei­chen und streng katholisch geprägten Buchhandelsdynastie von Matt, verliebt. Flüeler breitet keinen Historienklatsch aus, sondern schildert anhand der von ihr recherchierten Liebesbriefe die See­lennot der beiden, die – entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen – doch noch zusammenfanden.

Der kleine Unterschied beim «M»
Gleichberechtigung stand für die Re­daktionsleiterin auch bei DRS 1 im Zentrum. Sie sorgte dafür, dass beim Talk «Persönlich» Frauen und Männer in schöner Parität aufeinandertrafen. Und als im Jahr 1997 der Verein «Frauen in Nidwalden und Engelberg – Geschichte und Geschichten» gegründet wurde, war Brigitt Flüeler von Anfang an dabei. Mit anderen Mitstreiterinnen rettete sie die Volkskundlerin und Schriftstellerin Marie Odermatt-Lussy (M. O.-L.) vor dem Vergessen. Aufgrund dieser Arbeit erhielt Odermatt-Lussy 29 Jahre nach ihrem Tod den Medienpreis SRG Zen­tralschweiz. «Oft bekam ich zu hören: Hat sie ihn wirklich verdient?» Flüeler ist überzeugt, diese Frage wäre nie auf­gekommen, wenn das «M» im Kürzel M. O.-L. nicht für Marie, sondern für Mar­kus gestanden hätte.

Eine andere Nidwaldnerin, der lange der Status der Künstlerin abgesprochen wur­de, ist Annemarie von Matt. Im Radiostu­dio realisierte Flüeler eine Inszenierung zum literarischen und künstlerischen Schaffen von Annemarie von Matt – eine Produktion, die in der Kategorie Feature des renommierten «Prix Europa» nomi­niert wurde. Was diese spannende Sen­dung somit eindrücklich zeigt: Brigitt Flüeler ist eine Stimmenfängerin.

Anderen eine Stimme geben
Mit Menschen zu reden, um Geschichte und Geschichten zu erzählen – das be­wies Brigitt Flüeler auch bei der Jahres­versammlung des Historischen Vereins Nidwaldens (HVN) 2025. Neun Jahre lang präsidierte sie als erste Frau den Traditi­onsverein. Bei ihrem Abschied stellte sie ihre Recherche zum Thema eingewan­derte Italienerinnen und Italiener vor. Im Gespräch mit vier italienischstäm­migen Gästen zeigte sie, wie Zeitzeugengespräche Geschichte lebendig machen können. Brigitt Flüeler hat aber vor allem ein krönendes Finale als Präsidentin des HVN gesetzt. Bei der Vernissage des Buches «Gegen das Vergessen» im No­vember 2024 spielte sie im vollbesetzten Pestalozzisaal ihre Stärke als Radiomo­deratorin aus. Das von ihr massgeb­lich angestossene Buchprojekt zu den fürsorgerischen          Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in Nidwalden wurde zu einem würdigen Festakt, bei dem Landammann Res Schmid in An­wesenheit des gesamten Regierungsrats die Bitte um Entschuldigung für das Leid und Unrecht gegenüber allen Betroffe­nen aussprach.

Dass dieses dunkle Kapitel aufgearbeitet wurde, ist auch Flüelers Hartnäckigkeit zu verdanken. Das berühmte Brecht-Zitat, «die, die im Dunkeln stehen, sieht man nicht», könnte wie ein Credo über dem Schaffen von Brigitt Flüeler stehen. Die verborgenen und vergessenen Men­schen hat sie aus dem Dunkeln geholt. Und dies hat auch die Jury erkannt, die ihr den mit 25’000 Franken dotierten Innerschweizer Kulturpreis verleiht.

Brigitt Flüeler
Brigitt Flüeler erhält den Innerschweizer Kulturpreis. (Foto: Monique Wittwer)