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Das geglückte Leben von Peter von Matt - soweit
von Sabine Graf
Auf dem Friedhof Stans, unterhalb der streng angeordneten Familiengräber, leuchtete in diesen Maitagen der Rittersporn in allen Blautönen, flankiert von gelben Löwenmäulchen, purpurfarbenen Lilien und zarten Wiesensträussen; der kunstvoll mit Akelei, Flockenblumen, Zittergräsern, Anemone Pulsatilla und Bartnelken arrangierte Blumenkranz setzte einen stilvoll-poetischen Akzent. Linkerhand stattliche Kränze, dabei stachen insbesondere das tiefblaue Band «Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste» und die schwarz-rot-goldene Trauerschleife mit der Aufschrift «Der Präsident der Bundesrepublik Deutschland» ins Auge. Es handelt sich um das Grab von Peter von Matt-Albrecht.
Von Stans nach Zürich
Der langjährige Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich, mit Gastprofessur in Stanford, Autor, Juror, Leser, Erzähler, Ehemann, Familienvater und Grossvater ist am Ostermontag kurz vor seinem 88. Geburtstag in der Nähe von Zürich verstorben.
In Stans in der kulturaffinen Familie von Matt, der eine Papeterie und Buchbinderei gehörte, aufgewachsen, besuchte er das Kollegium St. Fidelis. Sein Germanistikstudium schloss er bei Emil Staiger mit einer Dissertation zu Grillparzers Bühnenkunst ab. Seine Habilitation «Die Augen der Automaten» ist E.T.A. Hoffmann gewidmet. Mit seiner ebenfalls in Stans aufgewachsenen Frau, der promovierten Germanistin und Publizistin Beatrice von Matt-Albrecht, teilte er eine Familie und eine erfolgreiche intellektuelle Vita in Dübendorf bei Zürich.
Von Onkel Lieni geprägt
Die Verbundenheit dieses herausragenden und mit höchsten Preisen dotierten europäischen Intellektuellen zu seinem Heimatort Stans zeigte sich vermehrt in seinen späteren Lebensjahren; etwa in seiner Hommage an den Nidwaldner Kalender, den er als «Lebendiges Gedächtnis» und gemeinschaftsstiftendes Zeugnis auffasste, oder auch in seiner Dankesrede für den Johann-Melchior-Wyrsch Preis 2014 (gemeinsam mit Beatrice von Matt).
Eine persönlich grundierte Note trägt sein Essay «Herkunft und Aufbruch» (2018) über den Fotografen Leonard von Matt, seinen verehrten Onkel Lieni. Dieser Text legt ein berührendes Zeugnis seiner Kindheit im konservativen ländlichen Nidwalden der Nachkriegszeit ab.
Ethische Sensibilität
Es waren insbesondere der freiheitsliebende, weltoffene Onkel und dessen Frau Bobi, die dem «Buben» den Horizont für Ästhetik, Kultur und Gespräch eröffneten. In diesen Aufzeichnungen wird aber auch Peter von Matts sinnliches Sensorium für die Refugien in der Natur lesbar: das Aawasser, ein Lebhag, das Kreuchen und Fleuchen der Insekten am Wegesrand – wenn auch gebrochen: «Die Heuschrecken und Käfer, die einem im Sommer um die nackten Beine stoben, sind verschwunden.»
Das ist bezeichnend: Sein Wissen zeichnet sich immer auch durch ein Gewissen aus. Ihm eigen ist eine ethische Sensibilität, insbesondere auch für die menschengemachten ökologischen Zerstörungen und Verwerfungen, die ihn bis ins Innerste getroffen haben. Scharfsinnig, wie er war, ohne Nostalgie, lakonisch und ehrlich ging er damit um: «Ähnliches geschah in der ganzen Schweiz, aber wer es an seiner engsten Heimat erlebt hat, den trifft es doch als eine persönliche Katastrophe.»
Brillanter Analyst
Seine fortwährende, kritische Beschäftigung mit der kulturellen, literarischen und gesellschaftspolitischen Geschichte der Schweiz manifestiert sich in den zu Klassikern der Schweizer Kulturgeschichte avancierten Essaybänden «Die tintenblauen Eidgenossen» (2001) und «Das Kalb vor der Gotthardpost» (Schweizer Buchpreis 2012). Darin wird unter anderem Schillers «Tell» mit der Brille des an der Psychoanalyse geschulten Professors dekonstruiert; eine seiner ersten Publikationen war der «Literaturwissenschaft und Psychoanalyse» (1972) gewidmet. Das psychoanalytische Besteck zur Analyse von Literatur, um in seinem griffigen Bilde von «Literatur als Lebensmittel» zu sprechen, begleitete ihn sein Leben lang.
Seine akademisch geschulte Prosa wurde zunehmend freier und essayistischer, sein kreatives Formulierungstalent war ebenso brillant wie zugänglich. Er war der gelehrte Literaturvermittler und Erzähler par excellence, seine Montagsvorlesungen in der Aula der Universität Zürich waren legendär; nachzulesen in Franz Hohlers höchst vergnüglichem Porträt «Peter von Matt» (2008/2024).
Ich persönlich erinnere mich an seine gutturale Stimme, seinen leidenschaftlichen Furor – wenn er den Teufel im Detail entdeckt hatte und aus diesem erzählerische Funken schlug, seinem Auditorium auf schier magisch anmutende Weise durch seine Neugier und rhetorische Verve die Herzkammern zu öffnen vermochte für die Expedition ins rätselhaft-dunkle, faszinierend-verästelte Innenleben der Texte, in denen er unsere Existenz gespiegelt sah.
Weises Vermächtnis
Wissend war er, weise auch: «Man muss weitergeben, was einem geschenkt wird, sei es Wissen, seien es Erfahrungen, sei es einfach Freundlichkeit und Wohlwollen. Soweit mir dies gelungen ist, soweit halte ich mein Leben für geglückt.»
Dieses autorisierte Zitat aus Peter von Matts eigens verfassten Lebenslauf, geschrieben Januar 2009/März 2020, trägt eine tiefe, humanistisch-weise-warme Signatur – wir sind die Beschenkten und Beglückten. Mögen diese Zeilen mehr denn je gehört, gelebt und weitergetragen werden, es wäre sicherlich auch im Sinne Peter von Matts.