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«Es gibt nicht nur die eine, eigene Wahrheit»

26. April 2023
Man müsste ihn eigentlich kennen: den aktuellen Landammann Nidwaldens, Joe Christen. Von 2006 bis 2018 war er Stanser Gemeinderat, dann wurde er Regierungsrat. Zum Gespräch über «Gott und die Welt» trafen sich Joe Christen und unser Mitarbeiter im Stanser «Tellen».
Joe Christen
Joe Christen: Vom Gemeinderat zum Regierungsrat – und jetzt Landammann.

Von Peter Steiner

Damals: Zu «verhandeln» waren wir beauftragt, wer von uns «Neuen» welches frei gewordene Ressort im Gemeinderat übernehmen möchte. Innerhalb von zwei Minuten war klar: Joe Christen ist für die Finanzen gesetzt. Aus dem spontanen Anfang entwickelte sich eine feine Kollegschaft, die sich bis heute erhalten hat. Dass wir uns auch in diesem Gespräch mit «du» anreden, ist deshalb nicht Kumpanei, sondern unter «Alt-Räten» selbstverständlich.

«Rächemachers»
Wer ist Joe? – frage ich zu Beginn. Joe berichtet summarisch: «Aufgewachsen in Oberdorf als fünftes Kind von ‹Rächemachers›, Kindergarten und 1. Klasse in Stans, dann hier wieder die 3. Sek., Lehre als Hochbauzeichner in Luzern …» Ich unterbreche, weil ich mich erinnere,
dass sein Vater sehr früh verstorben ist – und Joe geht darauf ein: «Ich war knapp 5 ½ Jahre alt, als der Unfall in der Werkstatt geschah. Meine Mutter war vom einen auf den andern Tag mit sechs Kindern auf sich allein gestellt. Sie hat sich mit allen Kräften dafür eingesetzt, dass wir als Familie zusammenbleiben konnten, musste einem Beruf ausserhalb des Hauses nachgehen, blieb aber sehr besorgt darum, dass wir Kinder nicht aus der Spur gerieten. Mami war quasi auch Dädi, unterstützt von den älteren Brüdern, die mir zwischendurch schon mal den Tarif erklärten.»
Ein Zwischenwort zur Erklärung: Joes Grossvater Theodor Christen-Hess hatte 1921 das Gasthaus «im Feld» an der alten Kantonsstrasse nach Dallenwil gekauft und zu einer Wagnerei umgebaut. Weil er und dann auch Joes Vater Josef vor allem Werkzeuge für die
Landwirtschaft herstellten, Rechen zum Beispiel, wurde die Familie kantonsweit zu «s’Rächemachers». Wenn sich Joe verortet, ist ihm der Begriff heute noch dienlich, auch wenn die Wagnerei den Betrieb schon längst eingestellt hat. Wichtiger: Die Familie konnte im Haus bleiben. Nach der Volksschule wäre Joe gerne «FEAM» geworden, Fernmelde-, Elektronik- und Apparatemonteur, doch ohne «Götti» waren die wenigen Lehrstellen im Kanton schwer erhältlich, und so begann er die Lehre als Hochbauzeichner. Auch diese Stellen waren begehrt, aber Joe fand sie in Luzern: «Ich lernte hier sehr viel und ich denke
sehr oft an die wunderbare Zeit zurück» – und trocken flicht Joe ein: «Lehrjahre sind keine Herrenjahre.»

Nicht nur reden
Nach der Lehre bildete sich Joe weiter zum dipl. Bauleiter Hochbau und dann zum Projektleiter. Weil er den Umgang mit Menschen immer schon mochte, wechselte er Ende der 1990er-Jahre in den Beruf des Personalberaters, fand seine Aufgabe bei der Regionalen Arbeitsvermittlung RAV und später in der kantonalen Verwaltung Luzern. Nachdiplomstudien in Unternehmensführung sowie in Business Excellence schloss er schliesslich mit dem Master of Advanced Studies der Hochschule Luzern ab.
«Irgendwie habe ich auch immer schon politisch mitgedacht und mitdiskutiert», antwortet Joe auf die Frage nach seinem Einstieg in die Politik. So sei sein Interesse am Politischen ruchbar geworden, und auf die Anfrage hin, ob er für ein Amt zur Verfügung stehe, habe er nicht Nein sagen können. Es entspreche seinem Naturell, nicht nur «zu reden, sondern auch anzupacken». So hat er sich im Berufsverband engagiert und auch im Militär Führungsverantwortung übernommen. In Bezug auf Parteien habe er lange geglaubt, die
eine richtige gebe es für ihn nicht. Wenn er jetzt der FDP angehöre, sei dies keine doktrinäre Unterordnung: «Noch immer ist es so, dass ich gelegentlich links oder rechts von unserer Parteilinie Dinge gut finde.» Freiheit auch im Denken eben. Als Gemeinderat machte Joe die Erfahrung, mit viel mehr Leuten persönlich bekannt zu sein als zuvor. Aber auch jene, dass geglaubt wurde, er könne jetzt Wunder bewirken: «Wir sind bei unserem behördlichen Handeln an die Gesetze gebunden, und wir werden mit dem Amt nicht allwissend – und das ist auch gut so.» Das Amt erfuhr er als sehr positiv, weil der Rat eine konstruktive Diskussionskultur pflegte und zielorientiert zusammenarbeitete.

Eine Stufe höher – oder zwei?
2018 wurde Joe in den Regierungsrat gewählt, ohne zuvor dem Landrat angehört zu haben. Ein Nachteil? Joe: «Die Erfahrung aus der Gemeindeexekutive war mir sehr nützlich. Allerdings musste ich mich auf der kantonalen Ebene ins parlamentarische System und vor
allem in die intensive Kommissionsarbeit eingewöhnen.» Der Gemeinderat handle näher bei den Leuten als der Regierungsrat, welcher – systembedingt – sich intensiver mit Grundsätzlichem beschäftigt, mit der Vorbereitung der kantonalen Gesetzgebung beispielsweise. Joe, der der Landwirtschafts- und Umweltdirektion vorsteht, verweist auf die Aktualität: «Die Vorbereitung so grosser ‹Brocken› wie das Landwirtschaftsgesetz, das Energiegesetz oder das Gewässergesetz erfordert grossen Aufwand im Erkennen des Regelungsbedarfs und im Suchen der gegenwärtig besten Lösung.» Erstaunt ist Joe, der seiner Verwaltung hohes Sachwissen zuspricht, mit welcher Nonchalance seriöse Arbeiten gelegentlich «zerpflückt» würden.
Als weiteren Unterschied zum Gemeinderat nennt Joe die intensiven Kontakte, welche die Kantone untereinander und mit dem Bund pflegen. Er selbst ist in nicht weniger als sieben eidgenössische und zentralschweizerische Konferenzen eingebunden, die jährlich zwei- bis dreimal tagen. Joe schätzt den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen sehr und lobt die ganz selbstverständliche allseitige Hilfsbereitschaft. Die «Reisetätigkeit» gehe natürlich zulasten der Präsenz hier vor Ort, und überhaupt: Das als Hauptamt definierte Regierungsratsmandat sei mit einer 80 %-Belastung reichlich theoretisch …

Jetzt: Landammann
Seit dem 1. Juli des letzten Jahres ist Joe jetzt Landammann. Das Amt war historisch das höchste im Land, verband den Vorsitz im «Wochenrat» mit dem Präsidium des Parlamentes und des höchsten Gerichts. Seit 110 Jahren ist es mit dieser Machtfülle, die fast «königlich»
war, vorbei – geblieben ist die Leitungsfunktion im Regierungsrat und ein bisschen vielleicht auch das Verständnis des Landammanns als «Landesvater». Wie kommt Joe mit der Rolle zurecht? – «Es macht mir Freude, Leute kennenzulernen und mich mit ihnen zu unterhalten.
Wann immer möglich, folge ich Einladungen.» Auch auf Zuschriften wolle er stets innert nützlicher Frist Antwort geben, doch appelliert er ans Verständnis, dass er im Einzelfall nicht an den gesetzlichen Rahmenbedingungen vorbeiagieren könne. Nicht «König» also, und Zauberer schon gar nicht.
«Gouverner, c’est prévoir», lautet eine Kurzformel fürs Regieren. Was, frage ich den Landammann abschliessend, zeichnet sich als grosse Herausforderung am Nidwaldner
Horizont ab? Joe sagt’s unverblümt: «Die Klimaveränderung bedroht unsere Lebenswelt ganz extrem. Die Welt kommt wohl gut ohne uns Menschen aus, nicht aber wir Menschen ohne die Welt.» Es sei uns also wohl geraten, wenn wir uns mit der Welt arrangieren. Klima, Umwelt, Energie, Wald, Landwirtschaft: Das sind die Kernthemen der Zeit, die nach Lösungen rufen. In dem Sinne sei er zweifellos in einem Schlüssel-Departement engagiert.
Und was wäre sein «landesväterlicher Wunsch» an die Bevölkerung? – «Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Meinungen, die den Dialog ermöglichen. Den Menschen möchte ich die Einsicht gönnen, dass es nicht nur die eigene, eine Wahrheit gibt.»
Wie wahr das ist.